Forscher in Sorge über Schicksal des „heiligen Büchergrals“ einer deutschen Abtei

Diese Aufnahme entstand im Februar 2013.

Diese Aufnahme entstand im Februar 2013.

Aus dem Englischen übersetzt

Altomünster, Deutschland (AP) – Sie war staubig, vollgepfercht und in größerer Unordnung, aber als die Kunsthistorikerin Eva Lindqvist Sandgren die Bibliothek in der Abtei Altomünster betrat, die mehr als fünf Jahrhunderte lang für jedermann außer den Nonnen des deutschen Klosters tabu war, wusste sie sofort, dass sie einen großen Schatz erblickte.

Die staubigen Regale enthielten ihrer Schätzung nach wenigstens 500 Bücher einschließlich kostbarer illuminierter Handschriften (Anm.: „illuminiert“ heißt, mit Buchmalereien versehen) aus dem 16. Jahrhundert; Gesänge, die vom einzig von Frauen geleiteten Birgittenorden genutzt wurden sowie Prozessionalien (Anm.: liturgische Bücher, die Texte und Gesänge enthalten, die während einer Prozession gebetet und gesungen werden), die überquellen von farbenfrohem religiösem und ornamentalem Dekor an ihren Rändern.

Anders als die meisten birgittinischen Bibliotheken hatten die Bände die protestantische Reformation, den Dreißigjährigen Krieg und Deutschlands Säkularisation, als der Staat das meiste Kircheneigentum wegnahm, überlebt. Es stellt die vollständigste heute bekannte Sammlung des Ordens dar.

„Ich hatte eine Zeitkapsel betreten“ sagte Lindqvist Sandgren, eine Professorin an der schwedischen Universität von Uppsala.

Überrascht von der spontanen Entscheidung von Altomünsters letzter verbliebener Nonne, Schwester Apollonia Buchinger, die Bibliothek zu öffnen, schmiedeten 20 Wissenschaftler einschließlich Sandgren Pläne, zurückzukehren und die bemerkenswerte Sammlung akribisch zu katalogisieren. Doch bevor sie das konnten, ordnete der Vatikan an, die Abtei in der bayerischen 7.500-Seelen-Stadt zu schließen und versperrte die Bibliothek, welche darüber hinaus um die 2.300 Statuen, Gemälde und andere Kunstwerke enthält.

Sollte die Schließung wie geplant vonstattengehen, würde das gesamte Eigentum des Klosters – die Bücher und Kunstwerke, das häuserblockgroße Klostergebäude sowie die beträchtlichen Flächen an Wald und Feldern, die den klösterlichen Grundbesitz ausmachen – an die Erzdiözese München und Freising fallen.

Altomünster ist die letzte Station einer S-Bahn-Linie aus München, einer der teuersten Städte in Deutschland. Allein sein Grund und Boden ist etliche Millionen Euro wert – ein Vermögen, welches nach Schwester Apollonia die Erzdiözese nur allzu gerne in ihre Hände bekäme.

Seit 1496 beheimatet das einstige Benediktinerkloster in Altomünster einen Frauenorden, der im 14. Jahrhundert von der Heiligen Birgitta in Schweden gegründet wurde. Heute ist es eines von drei verbliebenen Klöstern des ursprünglichen Zweiges dieses gelehrten monastischen Ordens. Doch durch den Rückgang der Ordensschwestern lebt Schwester Apollonia dort jetzt beinahe allein. Der Vatikan aber verlangt mindestens drei Ordensschwestern, um potenzielle Novizinnen zu Schwestern ausbilden zu können, weshalb das Kloster geschlossen werden soll.

Die Franziskanernonne Schwester Gabriele Konrad, die vom Vatikan mit der Schließung des Klosters beauftragt wurde, sagt, die Sammlungen würden nur aus Sicherheitsgründen verwahrt. Allerdings verweigert sie sowohl den Wissenschaftlern als auch anderen Interessenten den Zugang zu den Büchern.

Diese Aufnahme entstand im Februar 2013.

Diese Aufnahme entstand im Februar 2013.

„Der Wert der Bibliothek liegt in ihrer Vollständigkeit. Der Bücherbestand wurde niemals auseinandergenommen und höchstwahrscheinlich hat nie jemand eine bedeutende Anzahl an Büchern entnommen – es ist wirklich eine lebendige und funktionierende Bibliothek“, meint Corine Schleif, eine Kunsthistorikerin der Arizona State Universität, die die Bibliothek gemeinsam mit Sandgren unter die Lupe nahm. „Wenn dieser Bestand auseinandergerissen werden sollte und aufgeteilt werden würde in Bücher, für die Sammler mehrere Zehn- oder Hunderttausende Dollar zahlen würden, und solche, die nur für die Gelehrten von Interesse wären, dann würde die Bibliothek viel von ihrem Wert einbüßen.“

Schleif, Sandgren und andere Akademiker haben in einem offenen Brief an den Vatikan, Schwester Gabriele und die Erzdiözese München und Freising – die Altomünsters Besitz erben würde, wenn das Kloster geschlossen wird – darauf gedrängt, dass die Bibliothek zusammengehalten und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird und zudem angeboten, sie zu katalogisieren.

Volker Schier, ein weiterer Experte der Arizona State Universität, schätzt, dass die Sammlung in Altomünster etwa 80 Prozent aller bekannten birgittinischen Bücher enthält.

Schwester Gabriele und die Erzdiözese München und Freising beharren darauf, dass es keine Absicht gäbe, die Bücher zu verkaufen, und dass ihre Spezialisten bestens qualifiziert seien, sich um sie zu kümmern.

Wissenschaftler hatten schon zuvor gewusst, dass es (im Kloster Altomünster) eine Bibliothek gab, und hatten die Möglichkeit, die Ordensschwestern zu bitten, ihnen bestimmte Bücher zu bringen, um sie in öffentlich zugänglichen Bereichen des Klosters zu studieren. Im Oktober 2015 jedoch, als eine so große Gruppe birgittinischer Gelehrter zu Besuch war, entschied Schwester Apollonia, dass es sinnvoller sei, wenn diese sich selbst einen Überblick verschaffen könnten.

Nachdem der Vatikan einen Monat später die Schließung des Klosters angeordnet und Schwester Apollonia um mehr Zeit gebeten hatte, wandte sich die 62-jährige Ordensfrau mit rosigen Wangen hilfesuchend an die Öffentlichkeit und startete einen eigenen Blog, eine Facebook-Seite sowie einen Twitter-Account, um Aufmerksamkeit und Interesse zu wecken. Auch eröffnete sie der Associated Press in noch nie dagewesener Form den Zugang zu Bereichen des labyrinthischen Klosters, die bislang ausschließlich den Ordensschwestern vorbehalten gewesen waren.

Schwester Apollonia ist davon überzeugt, dass sie mit der Unterstützung anderer birgittinischer Orden zur Erhöhung ihrer Schwesternzahl schon bald die Ausbildung eigener Novizinnen fortsetzen kann. Derzeit hat sie eine Postulantin [eine weitere nahm an dem Besuch der Associated Press nicht teil], eine 38-Jährige, die ihre Juristenkarriere letztes Jahr [2015] aufgab, aber ohne mehr Nonnen, die sie ausbilden, den nächsten Schritt, um Novizin zu werden, nicht gehen kann.

„Sie sagen, wir sind zu wenige, aber tatsächlich gibt es einige weitere Frauen, die sich uns anschließen möchten“, erklärt Schwester Apollonia, die ihrer Hoffnung Ausdruck verleiht, dass der Vatikan seine Anordnung der Klosterschließung noch einmal überdenken könnte.

Die verantwortliche Vatikanische Behörde hat sich geweigert, zu ihren Plänen Stellung zu nehmen.

Schwester Gabriele sagt, der Niedergang von Altomünster habe sich bereits seit Jahrzehnten abgezeichnet und vorangegangene Versuche, neue Ordensschwestern zu gewinnen, seien fehlgeschlagen. Im Jahr 2012 kamen zwei Birgittinnen aus Mexiko – nur um zwei Wochen später nach Hause zurückzukehren, weil sie Heimweh hatten.

Peter Beer, Generalvikar des Erzbistums München und Freising sowie Kardinal Reinhard Marx’s Vertreter in Verwaltungsangelegenheiten, weist jede Spekulation von sich, wonach es die Erzdiözese auf das Land und die Schätze abgesehen haben könnte. Aus kulturellen, sozialen und religiösen Gründen läge es in der Verantwortung der Erzdiözese, Klöster zu bewahren, wenn sie geschlossen werden.

„Der Eindruck, dass wir Reichtümer und Kleinodien und Gold und was man sich nur vorstellen kann, einkassieren, ist falsch – das ist Unsinn“, erzählte er der AP in seinem Münchener Büro. „In allererster Linie übernehmen wir anfallende Kosten.“

Gleichzeitig spielte sein Büro den potenziellen Wert sowie die geschichtliche Bedeutsamkeit der Bibliothek herunter, indem es der AP erzählte, die Bibliothek enthalte „eine große Zahl an Antiphonarien aus dem 18. Jahrhundert, von denen die meisten starke Gebrauchsspuren haben und manche in beschädigtem Zustand sind“ und sechs mittelalterliche Antiphonarien – Bücher mit religiösen Gesängen – bereits „von Wissenschaftlern untersucht“ wurden.

Das hat die Gruppe von Wissenschaftlern, die den offenen Brief verfasst hat, und andere nur noch argwöhnischer gemacht. Von den mehreren Hundert Fotoaufnahmen, die sie [bei ihrem Besuch in Altomünster im Oktober 2015] gemacht haben, wissen sie, dass es noch viel mehr gibt. Dazu zählt unter anderem auch ein illuminiertes belgisches Manuskript aus dem 16. Jahrhundert, das nach Dr. Schier 100.000 Euro oder mehr einbringen könnte, wenn es an einen privaten Sammler verkauft werden würde.

Diese Aufnahme entstand im Februar 2013.

Diese Aufnahme entstand im Februar 2013.

Schier merkte an, dass selbst finanziell unbedeutende Bücher aus historischer Sicht wichtig sind. Kassenbücher, Kochbücher und selbst Antiphonarien helfen dabei, zu rekonstruieren, wie die Ordensschwestern über die Jahrhunderte hinweg lebten.

„Altomünster ist der Heilige Grahl“, sagte er.

Beer sträubte sich gegen das Hilfsangebot der Forschergruppe.

„Sie können versichert sein, dass wir keinerlei Hilfe aus den USA benötigen, um zu verstehen, wie wir mit Kulturgütern von europäischer Bedeutung umgehen müssen. Wir haben eine etwas längere Geschichte und eine etwas längere Erfahrung“, sagte Beer.

Bezugnehmend auf den Brief der amerikanischen und europäischen Gelehrten fügte er hinzu: „Es ist ein wenig irritierend, die Dinge in einem offenen Brief ohne die Fakten in der Öffentlichkeit ausgebreitet zu bekommen.“

Die Erzdiözese möchte alle Bücher, die auf die Zeit von vor 1803 zurückgehen, digitalisieren und Forschern zugänglich machen – das jedoch sei nicht genug, sagt Schleif.

„Eine Digitalisierung ist lobenswert, aber sie ersetzt niemals die Bücher, die jetzt vorsichtig untersucht und katalogisiert werden müssen“, sagte sie.

Für ihren Teil, sagt Schwester Apollonia, wäre sie, wenn der Vatikan entscheidet, ihr mehr Zeit im Kloster zu geben, mehr als glücklich, die Bibliothek erneut für die Wissenschaftler zu öffnen.

„Die Bücher müssen der Öffentlichkeit verfügbar gemacht werden“, sagte Schwester Apollonia. „Vielleicht könnten wir eine Gebühr erheben und es könnte eine Einnahmequelle daraus entstehen.“

Zum Originalbeitrag von David Rising, der am 26. Dezember auf dem Online-Portal des Nachrichtenmagazins The Associated Press erschien, geht es hier.